Altes Testament

Hendrik J. Koorevaar / Mart-Jan Paul (Hg.): Theologie des Alten Testaments

Hendrik J. Koorevaar / Mart-Jan Paul (Hg.): Theologie des Alten Testaments. Die bleibende Botschaft der hebräischen Bibel, TVG, Gießen: Brunnen 2016, geb., 399 S., € 40, ISBN 978-3-7655-9565-3

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Diese Theologie des Alten Testaments versammelt mehrere Autoren, die auf der Grundlage des sog. „literarisch-theologischen Ansatzes“ einen gemeinsamen Gesamtentwurf vorlegen. Der Band ist in drei große Teile gegliedert. Unter „Geschichte und Methodik“ wird zunächst von J. Steinberg ein knapper, aber sehr materialreicher und intelligenter Überblick über die Entwicklung der Disziplin der alttestamentlichen Theologie gegeben. In weiser Konsequenz des Abwägens der verschiedenen methodischen Zugänge schließt Steinberg, dass es kein Entweder-Oder bzgl. der Methode geben wird, sondern nur ein integrierender „multidimensionaler Ansatz“ der historischen, literarischen und theologischen Komplexität des AT gerecht werden kann. Daran anschließend begründet H. Koorevaar seinen methodischen Ansatz der strukturell-kanonischen Leseperspektive. Bei dieser steht die theologische Auswertung der großen, buchübergreifenden literarischen Strukturen des Kanons im Mittelpunkt. Koorevaar entscheidet sich für den hebräischen Kanon, wie er im Talmud vorgestellt wird und geht von drei Kanonteilen aus: Priesterkanon (Gen–2Kön), Prophetenkanon (Jer–Mal) und Weisheitskanon (Rut–2Chr). Anhand der Beschreibung der literarischen Makrostruktur soll sichergestellt werden, dass keine der wichtigen theologischen Themen des AT übersehen werden und es soll eine angemessene Beschreibung und Gewichtung der einzelnen Themen möglich sein. Koorevaars These ist, dass alle theologischen Themen des AT bereits in Genesis angelegt sind. Er findet sechs Hauptthemen (Schöpfung, Gottes Wille, Sünde, Verheißung und Berufung, Gottesdienst und Tempel, die Welt und Kanaan), denen jeweils ein Kapitel im dritten, thematischen Hauptteil des Bandes gewidmet ist.

Im ersten inhaltlichen Hauptteil begründet Koorevaar sein Modell des hebräischen Kanons, wie es als Grundlage für die spätere thematische Entfaltung der AT-Theologie dienen soll. Alternativ zur in der BHS abgedruckten Kanonreihenfolge geht er von einer im babylonischen Talmud beschriebenen Reihenfolge aus, die er als ursprünglicher versteht. An den Schnittstellen zwischen den Hauptteilen des Kanons geht es dann um das Thema Exil und Rückkehr.

Im vierten Kapitel stellt Koorevaar seine Hypothese eines einheitlichen „Buches“ Ex-Lev-Num als Beispiel einer strukturell-kanonischen basierten Theologie des AT vor. Zentrale theologische Themen sind dann der Versöhnungstag, das sich darum gruppierende Heiligtum und der Dekalog (der allerdings erst über seine Deposition in der Bundeslade ins Blickfeld kommt). Ingesamt wird Koorevaars auf großräumigen Ringstrukturen basierender Ansatz in diesem Teil schön deutlich.

Den nun folgenden thematischen Hauptteil eröffnet W. Hilbrands Beitrag zur Schöpfungstheologie. Ausgehend von Gen 1–2 werden zentrale Themen (u. a. die Gottesbildlichkeit des Menschen und das Erhaltungshandeln Gottes) durch die verschiedenen Kanonteile überblicksartig verfolgt. So wird der schöpfungstheologische Grundboden aller alttestamentlichen Texte deutlich. Gerade am Ende dieses Teil kommt es zu sehr interessanten und weiterführenden Andeutungen von aktueller Relevanz der alttestamentlichen Schöpfungstheologie. Leider werden diese nicht weiter ausgeführt.

M.-J. Paul und H. Klement besprechen die Weisung Gottes, allerdings unter (teilweiser) Absehung der Thematik Sündhaftigkeit und Kultus, da diese Themen an späterer Stelle im Band angesprochen werden. Es geht bei Gottes Regeln für den Menschen um die Ermöglichung von Orientierung und die Eindämmung von Fehlentwicklungen. Allerdings wird Gottes Weisung weitestgehend als Genre ohne den kanonisch bestehenden narrativen Kontext betrachtet. Zum Abschluss dieses Teils dient Wrights, in seiner Ethik (2004) beschriebener Ansatz zu den drei Foki alttestamentlichen Ethik (Gott, Volk, Land), dem Aufzeig der bleibenden Relevanz der Tora. Dies weiter auszuführen wäre ein großer Gewinn gewesen.

Der Abschnitt zu Sünde, Heilung und Überwindung (Koorevaar, Marlowe) versammelt in einem überblicksartigen Gesamtdurchgang den Befund zum Thema. Einzelne Texte werden vertieft, jedoch entsteht kein theologisches Gesamtbild. Gerade an diesem Punkt wäre es interessant gewesen, wie die Autoren die Thematik Exil und Rückkehr konkret aufgreifen, die ja eigentlich die tonangebende Leitfrage des Buches ist.

Rieckers Beitrag zur kanonischen Entfaltung der Messiaserwartung Israels stellt das Thema sehr gründlich und facettenreich dar. Hier lässt sich viel lernen und oft verwirrende biblische Texte werden aufgeschlossen. Im Ausblick bleibt dann der Wunsch, dass die Ausführungen zu Segen und Fluch über die gegebenen Stichworte hinausgehen würden.

Im Teil zum Kultus (E. v. Staalduine-Sulman) wird, ähnlich wie in dem zu Sünde, ein umfassender Überblick zu allen möglichen Texten, die mehr oder weniger mit Gottesdienst zu tun haben, gegeben. Vermisst wird eine Diskussion zur Tempelkonzeption im Schöpfungsbericht, zu den symbolisch-theologischen Hintergründen der Konzepte Reinheit, Heiligkeit und Opfer. Auch die prophetische und weisheitliche Kulturkritik kommt zu kurz.

Zum Land betont M.-J. Paul die im biblischen Kanon bedeutsame Konzeption des Ortes als Segensraum und die Bedeutung besonderer Orte als heilige Räume. Hier wird zurecht wieder die Ethik von Chris Wright genannt, die hier weitere Impulse hätte geben können, gerade auch was den Umgang mit Ausländern angeht. Paul sieht eschatologisch eine über die Landverheißung gesicherte spezielle Bedeutung des ethnischen Israel.

Das Kapitel zu den theologischen Überzeugungen und Differenzen im Frühjudentum (G. W. Lorein) sammelt viele interessante Zitate und Zusammenfassungen zu den vorher im Band besprochenen Themenkreisen. Es wird die Vielfalt der frühjüdischen Theologie deutlich, die zu großer Vorsicht bei pauschalisierenden Urteilen zu den Juden zur Zeit des NT führen sollte. Darüber hinaus wird es dem Leser überlassen, die Kontraste und Ähnlichkeiten sowohl zum AT als auch zum NT herauszuarbeiten. Aber vielleicht sollte man dies auch nicht von einem Überblickswerk verlangen, zumal die Gefahr für Verallgemeinerungen auf kleinem Raum recht groß würde.

Das letzte Kapitel (M.-J. Paul) wendet sich dem christlichen Kanon beider Testamente zu. Hier werden nochmals die Grundthemen mit Aspekten aus den christlichen Schriften versehen. Leitende Grundannahme ist die Kontinuität der beiden Testamente. Das AT ist nach vorne hin offen und erwartet eine Weiterführung, die in Jesus auf die Bühne tritt. Methodisch interessant ist, dass Paul hier für das AT einen neuen, viergliedrigen Kanon anbietet, der thematisch tatsächlich ganz gut zu der heute oft abgedruckten Kanonfolge im NT passt. Allerdings ist es nicht mehr der Kanonentwurf, wie er die Grundlage für die Kapitel zum AT bildet.

Dieser Sammelband ist schon etwas Besonderes. Die Einheit in der Darstellung und der methodischen Herangehensweise ist erstaunlich. Sicherlich gibt es Unterschiede bzgl. Qualität und auch Relevanz. Positiv zu nennen ist auch die methodische Transparenz – Dinge werden angesprochen, nicht nur stillschweigend vorausgesetzt. In Einzelauslegungen kann man an vielen Stellen auch anderer Meinung sein, doch gibt es auch grundlegende Anfragen.

Was ist der Mehrwert des Koorevaarschen strukturell-kanonischen Ansatzes? Interessanterweise spielt diese methodische Grundentscheidung in den thematischen Teilen eine deutlich untergeordnete Rolle, vor allem  da die einzelnen theologischen Themen aus Genesis kommen und dann überblicksmäßig in allen Büchern jeweils gesucht werden. Die eigenständigen Beiträge einzelner Bücher rücken in den Hintergrund. Die Frage ist, wie kanonisch man das noch nennen kann, denn es sind ja seine Teile, die den Kanon ausmachen.

Die Entscheidung für eine Großanlage des Kanons im Schema 7+15+11 mit den Mittelbüchern Josua, Jona und Hl erscheint willkürlich. So wird Exodus/Lev/Num als ein Buch zusammengefasst und Hos-Mal nicht als Dodekapropheton. Der Mut zu großen Linien und Würfen ist bewundernswert. Forschungsgeschichtlich scheint die Zeit dafür reif zu sein. Die Thematik Exil/Rückkehr für den Kanon lässt sich nachvollziehen, doch fällt es schwer, sich für einen Kanon mit zwingenden Gründen zu entscheiden – es gibt viele Linien, die sich im Kanon als das Material einend erweisen.

Hinzu kommt, dass der Kanon als sekundäres Merkmal gelten muss. Wieviel Sinn macht es aus verschiedenen Anordnungen eine auszuwählen und als die „ideale Buchreihenfolge“ zu bezeichnen und darauf eine komplette AT-Theologie aufzubauen? Letztlich zeichnet man damit ja nicht unbedingt die „Theologie des AT“ nach, sondern die eines Zusammenstellers und unterstellt ihm, dass er letztlich die AT-Theologie geformt hat. Wieviel Einfluss hat diese Sequenzfrage eigentlich wirklich auf die AT Theologie? (Wie oben angedeutet ist der Einfluss selbst für die hier versammelten thematischen Kapitel nicht sehr groß.)

Vor welchem historischen Horizont wären dann die Texte auszulegen? Es erstaunt, dass der historische Kontext dieses Kanons nicht vorkommt. Die historische und theologische Situation des frühen nachexilischen Judentums ist ja nicht unbekannt und in genau diesem Kontext kann der Kanon als ein Ganzes ja erst theologisch gewirkt haben. Insgesamt, auch bei den thematischen Kapiteln, bis auf wenige Ausnahmen, kommt der wahrscheinliche historische Kontext der einzelnen Bücher nicht wirklich als Auslegungshorizont zur Geltung.

Führt diese Herangehensweise nicht vor allem zu einer Theologie einer bestimmten Kanonform? Müsste/dürfte man dann nicht alle anderen möglichen Kanonformen ebenfalls als theologisch bedeutsam betrachten? Wie verhalten sich dann diese je unterschiedlichen Theologien zueinander?

Vielleicht ließen sich hier neue Perspektiven finden, wenn man an retrospektiv erkennbare Intertextualitäten denkt. Damit würden die unbestreitbaren Bezüge der späteren zu früheren Texten ernst genommen, man müsste sich aber nicht auf eine bestimmte Kanonabfolge festlegen.

Dies sind prinzipielle Anfragen, die den Wert des Hauptteils des Buches nicht schmälern. Der besteht vor allem in der Materialfülle, d.h. in den vielen Bibelstellen (mit gutem Verzeichnis!) und Querverbindungen. Hierdurch wird sich der Band als Ausgangspunkt für  eigenständige und weiterführende Tiefenbohrungen in der alttestamentlichen Theologie erweisen.

 

Dr. Stefan Kürle, Dozent für biblische Theologie am Theologischen Studienzentrum Berlin

 

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